DER GEIST DES GRASES

 

»Untätigkeit – Der Geist des Grases«

Die Philosophie des Malers Heng Li von Barbara Leicht M.A., Kunstmuseum Erlangen 2009

 

 

 

Hinter den Arbeiten des jungen chinesischen Malers Heng Li vermutet man keine Untätigkeit, im Gegenteil: Das zumeist große Format und die minutiöse Ausführung lassen sogar von einem intensiven künstlerischen Impetus und Fleiß sprechen. Es gibt Begriffe, die wir Europäer mit einer negativen Bedeutung belegen, so auch die »Untätigkeit«.

 

Um dem Maler Li gerecht zu werden, muss man einen Blick auf seine Biografie werfen. Seine bisherige akademische Laufbahn wird Heng Li an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg im Jahre 2010 beenden. Die Nürnberger Akademie folgte auf ein Studium an der Kunstakademie von St. Petersburg und dem Besuch der angeschlossenen Mittelschule der zentralen Akademie der Bildenden Künste in Bejing, an der sich tausende Anwärter pro Jahr bewerben und nur etwa 40 Studenten Zugang finden. Es spricht für die große Begabung des Heng Li, dort aufgenommen worden zu sein.

 

Sein Werdegang führte den Künstler also über traditionell chinesische Kunst seiner Heimat in ein europäisches Kunstzentrum der Neuzeit, nach St. Petersburg. Die dortige weltberühmte Eremitage, die die ehemaligen Sammlungen der russischen Zaren beherbergt, zeigt Kunst von allerhöchster Güte. Die Studenten der Akademie haben die Möglichkeit, vor Ort zu kopieren. Dies schult ihr Auge und ihre Hand und lässt sie epochale Werke tief verinnerlichen. Auch Heng Li hat sich während seines Studiums durch das Kopieren von Gemälden der europäischen Kunstgeschichte genähert.

 

Die Kunst des alten Europas bietet kaum Berührungspunkte mit der asiatischen Kunst. Ausgenommen davon ist die chinoise Mode des Barock mit ihren Erscheinungen in Porzellan, Textil und Kleinkunst für die Kabinette der Adelspalais.

 

Die europäische Kunst ist in gewisser Weise Neuland für Li. Sie besitzt andere kulturhistorische Hintergründe als die chinesische, einmal davon abgesehen, dass beide höfisch waren. Der interessierte Maler Li würdigt die Qualität der traditionsreichen Malerei Europas und kann heute seine Erfahrungen aus beiden Kulturen in weiteren Studien zusammenführen. Die Bilder des »Geistes des Grases«, der »Untätigkeit« zeigen den momentanen Stand seines interkulturellen Schaffens.

 

Europa ist für Li ein anderer Kulturkreis, genauso, wie die chinesische Kultur für uns eine neue Erfahrung darstellt. Wir besitzen eine andere Mentalität und Denkweise als Menschen aus dem asiatischen Kulturraum. Dieser Unterschied liegt unter anderem in der Religionsphilosophie begründet. Daher müssen wir als Europäer seine Bildsprache anders lesen, als wir dies aus unserer traditionellen Ikonografie heraus gewohnt sind.

 

Der Malerei von Gras widmet sich der junge Künstler nunmehr seit zwei Jahren. Gras fasziniert ihn. Gras ist ein Bild für den ewigen, jahreszeitlichen Zyklus des Entstehens, des Wachsens und des Niedergehens, des immer wieder von vorne Beginnens. Ein Bild für die Menschen, die nach Auffassung des Buddhismus genau diesem Zyklus des Lebens unterworfen sind, bis sie nach mehreren Wiedergeburten in den Zustand des Nirwana eingehen, der höchsten Form des Seins, das nicht mit Worten beschreibbar ist, das nicht abgebildet werden kann. Es ist ein absoluter Zustand, eine Form des tiefen Friedens und des zur-Ruhe- Kommens. Gras besitzt nach buddhistischer Auffassung, wie alles andere auf der Welt einen Geist, der sich durch innere Schönheit ausdrückt. Gras ist ein Bild für den Menschen. Es ist wie sie ein Teil der Natur.

 

Der Mensch ist in der Menge ist vergleichbar mit dem Grashalm im Wiesenstück. Gras hat Eigenschaften, die es, obwohl es schwach ist, überleben lassen. Denn Bäume werden vom Sturm entwurzelt, das Gras hält durch seine Weichheit stand. Durch das Verinnerlichen der Schriften chinesischer Philosophen erarbeitete sich Heng Li eine eigene Sprache, die hauptsächlich durch die Bilder des Dao-de-jing des Laotse geprägt ist. Untätigkeit bedeutet »Nicht-Handeln«, was heißt, sich auf einen Lebenszyklus einzulassen, in dem der Mensch nur das tut, wozu er vorbestimmt ist, in dem er nur der Natur seines Seins folgt. Wachsen und Vergehen. Keine synthetischen Handlungen tun oder unnötige Dinge. Sich besinnen auf das, wozu man bestimmt ist. Wiederholt finden sich im Dao-de-jing die Begriffe Weichheit und Nicht-Handeln.

 

Laotse sagt im 43. Vers (Auszug):

»Das Weiche im Weltall überwindet das Harte.

Ohne Form ist das Wasser und dringt doch überall hin.

Die hohe Kunst liegt im Nicht-Handeln.«

Im 76. Vers sagt er (Auszug):

»...Das Harte und Starre ist ein Verbündeter des Todes.

Das Weiche und Zarte ist ein Verbündeter des Lebens.

Ist die Armee hart und starr, so wird sie besiegt.

Ist der Baum hart und starr, so wird er fallen im Wind...«

 

Die Vorbestimmung Heng Lis scheint die Malerei zu sein, mit der er uns seine Reflektionen über die Gesellschaft und die Welt mit wenigen Mitteln, jedoch mit tiefem philosophischem Hintergrund ästhetisch, eindrucksvoll und auf hohem Qualitätsniveau beschreibt.

 

Die formale Nähe zur Kalligraphie lässt sich in der Akkuratesse der Ausführung spüren. Die Grashalme sind nicht gemalt, sondern mit dem Schabeisen in die Farbschicht gekratzt. Was grün anmutet ist nicht grün, sondern entsteht während des Bearbeitungsprozesses: Li trägt auf die Leinwand Pariser Blau auf gelbem Grund auf. Es entsteht ein grüner Farbton, der eigentlich keiner ist. Außerdem birgt der Prozess des Kratzens einen meditativen Aspekt, der der Konzentration bei der Fertigung von Kalligrafien ähnelt. Durch das Kratzen erhält die Malerei einen skulpturalen Effekt und eine erweiterte Dimension.

 

Sehr wenige Ausdrucksmittel genügen Heng Li, seine Emotionen und Reflektionen auszudrücken. Auch dies ist ein Hinweis auf seine Tradition und die klassische chinesische Ästhetik, mit reduzierten Mitteln, ganz im Sinne der Philosophie, viel auszusagen. Mit einem einzigen Farbton und geringen Zitaten aus unserer Dingwelt gelingt Heng Li eine atmosphärische Dramatik. Im Gemälde »Gras mit rotem Stuhl« prallen die westliche Welt und die chinesische Philosophie aufeinander.

 

Unser konsumgetriebenes System, dem wir uns alle nicht verschließen können, macht uns gierig auf die synthetische Hochglanzwelt in den Auslagen der Geschäfte. Wir sehen den Reiz der Dingwelt und übersehen, dass das Glück, das uns der Besitz verschafft, nur von kurzer Dauer ist. Kaum gehört uns die moderne Errungenschaft, in diesem Falle als knallroter Gartenstuhl malerisch interpretiert, und wir sitzen darauf, können wir die pseudo-glücklich machende rote Farbe nicht mehr sehen. Zum Vergleich: Wir sehen den Berg nicht mehr, wenn wir auf seinem Gipfel stehen.

 

Lis Farbigkeit ist stark reduziert und sehr bewusst angewandt. Im Sinne des Nicht-Handelns besinnt sich der Maler auf die wesentlichsten Ausdrucksmittel. Pink steht bei ihm für den romantischen Hintergrund der Graslandschaft, gleichzeitig aber auch für das omnipräsente Vergehen einer Kreatur, auf ihr Ableben, auf den Tod. Rot steht in der Tradition der klassischen chinesischen Kunst. Weiß und Schwarz bedeuten einen absoluten Zustand, eine Endphase – ein absolutes Nichts. Li nennt die Romantik in seinen Gemälden selbst eine Art Traurigkeit und einsame Schönheit mit unlösbarem Geheimnis. Romantik heißt auch, das Werden und Vergehen zu hinterfragen und das Warum der eigenen Bestimmung zu reflektieren. Unter diesen Aspekten wird die Forderung von Laotse, das Dasein auf die essentiellen Dinge des Lebens herunterzubrechen, immer plausibler.

 

Das Gras mit seinen eben erläuterten Eigenschaften ist Grundlage für die Landschaften Lis. Weite Steppen tun sich auf, unendlich scheint das Grasland zu sein. Soweit das Auge blicken kann, treten nur Gras und Horizont und Wolken in Erscheinung. Was mag zwischen Himmel und Erde liegen? Wo endet die Erde, wo beginnt der Himmel? Nach buddhistischer und taoistischer Anschauung bedingt das Nichts oder die Leere alles Sein, hier den nicht fassbaren Raum zwischen Himmel und Erde. Das Nichts bedingt die Existenz von Himmel und Erde an sich. Ohne das Nichts gäbe es keinen Himmel und keine Erde.

 

 

Diese Leere ist nicht greifbar, wohl ist sie begreifbar. Wäre die Leere nicht, gäbe es unser System nicht. Die Leere auf den Bildern von Heng Li ist daher ein stilles, aber wesentliches Element seiner malerischen Reflektionen. Sie verweist wiederum auf Tendenzen im Sinne der europäischen Romantik. Bei der Interpretation dieser philosophischen Gemälde ist es somit erlaubt ein Stück weit Gesellschaftskritik zu lesen. Warum das kapitalistische System nicht funktioniert, wie wir an der Rezession merken, kann am Streben nach immer mehr, nach immer besseren Zahlen, nach immer mehr Wachstum, das bei manchem Gier und Habsucht auslösen mag, am Synthetisieren unserer Handlungen und am Synthetisieren unserer gesamten Welt liegen.

 

 

Laotse sagt im 37. Vers:

»Ohne Handlung ruht das Tao,

jedoch bleibt nichts ungetan.

Würden Könige und Herrscher diesem Weg folgen,

würden sich alle Dinge ihrer Natur gemäß ordnen.

Hätten Sie kein Verlangen nach Handlung,

würden sie zurückkehren zur namenlosen Schlichtheit.

Ohne Namen gibt es kein Verlangen.

Ohne Verlangen kehrt Stille ein,

und alle Dinge ordnen sich ihrer Natur gemäß.«

 

So erfreut uns der Anblick der Gemälde Heng Lis zum einen hinsichtlich ihrer Ästhetik, zum anderen fordern sie uns über ihre Metaebene dazu auf, uns gerade in dieser krisengeschüttelten Zeit häufiger an unsere eigentliche Bestimmung zu erinnern und Weniger als Mehr zu empfinden.

 

 

 

Laotse sagt im 48. Vers des Dao-de-Jing (Auszug)

»Täglich wirst du weniger tun,

bist du nichts mehr tust.

So bleibt nichts ungetan.«


 

 

Vielleicht vermag Heng Li es, uns durch seine Kunst einen Weg zur Erfüllung unseres Lebens zu zeigen.

 

 

 

 
 
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