Die Freiheit für eine eigene Ahnung

 


Kunst kommt von Können“ – eine banale Binse, die auch bei endloser Wiederholung nicht weniger blöde wird. Klar braucht es dieses „Können“ im Kunstschaffen, und ebenso für einen leckeren Espresso mit Crema oder einen über Jahre rund laufenden Motor. Doch würde weder ein gelernter, guter Barista noch ein geschickter wie erfahrener KFZ-Mechaniker ernsthaft behaupten, Kunst zu machen.

 

Kunst kommt von wissen, kennen, erkennen, jenem altdeutschen „Kunnan“ mit indogermanischen Wurzeln, erklärt Prof. Dr. Wilhelm Kufferath von Kendenich 1996 in seinem Buch „Kunst kommt nicht von können“, und habe schon existiert, als die Worte können und künden noch nicht in Gebrauch waren.

 

Heng Li jedenfalls vereint beides: Können und Kennen. Sein Handwerk hat er von der Pike auf und von Kindesbeinen an gelernt. Betrachtet man seine Grashalme genauer, ahnt man es: Wie aus der Drehung eines breiteren Federkiels oder einer Bandzugfeder stammend erinnern sie an kalligrafische Linienzüge. Diese kommen nicht von ungefähr: Geboren 1979 in Ürümqi, die Hauptstadt der chinesischen Region Xinjiang, beginnt er bereits mit sechs Jahren klassische chinesische Kalligraphie und Malerei zu lernen und gewinnt erste Preise. Mit 16 Jahren geht er an die angeschlossene Mittelschule der zentralen Akademie der Bildenden Künste in Peking, 1999 tritt er sein Studium der Malerei am Repin-Institut für Malerei, Plastik und Architektur in St. Petersburg an. 2002 zieht es ihn von China nach München, ab 2004 studiert er an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg, zuletzt als Meisterschüler bei Prof. Ottmar Hörl.

 

Eine der fünf Hauptkategorien der chinesischen Kalligraphie ist bezeichnenderweise die „Grasschrift“, die mit vereinfachter Struktur, ineinanderlaufenden Strichen und fließenden Linien der abstrakten Kunst sehr nahe kommt. Diese Grasschrift ordnet Inhalt und Lesbarkeit bewusst der kalligraphischen Gestaltung unter, selbst gebildete Chinesen können Grasschriften kaum mehr lesen.

 

Heng Lis umkehrender Kunstgriff in seinem Werk ist, diese abstrakte Schrift wieder der Natur zuzuführen und sie in ihrer zur Landschaft gewordenen Summe wieder lesbar zu machen – fernab von Muttersprache, Schriftbild und Kulturkreis. Sein ursprüngliches Können verändert er dabei: Er nimmt weg, statt Farbe hinzuzufügen, kerbt und kratzt die weißen Gräser aus dem zuvor aufgetragenen Schwarz heraus, und schafft damit monochrome, endlose Weiten aus Gras und Wolken, Weite und Nähe, Dunkel und Licht.

 

So menschenleer sein Werk auch ist, soviel Platz lässt es dem Menschen und wird zur Projektionsfläche für menschliche Sehnsüchte und Ängste. Nur: Es heißt nicht Hoffnung, Weg, Ziel, Einsamkeit oder Suche, sondern Gnade – ein seltsames, weil seltenes Wort, dem man im Alltag kaum noch begegnet. Gnade empfängt man, man ist begnadet - fernab erlerntem Können. Im „etymologischen Wörterbuch des Deutschen“ wird als Ausgangsbedeutung des mitteldeutschen Verbs „genäden“ ein „sich in Ruhelage begeben, sich niederlassen, um auszuruhen“ angenommen.

 

Heng Li aber, so mag man einwerfen, entstamme doch einem ganz anderen Kulturkreis, in dem Gnade – gar eine göttliche in einer götterlosen taoistischen Philosophie – sicher nicht in gleicher Bedeutung verstanden werde. Doch es spielt im Grunde keine Rolle. Denn seine Bilder gehören zu jenen besonderen, die dem Künstler die Freiheit geben, nach Hause gehen zu können und den Betrachter mit dem Werk allein zu lassen, ohne dass dieser seine Biografie kennen oder vorab gar einige Semester ägyptische Mythologie plus spätmittelalterliche englische Literatur studiert haben muss (wie es jüngst in Berlin oder München tonnenschwere Bombastausstellungen dem Besucher abverlangen).

 

Und es ist eines jener besonderen Bilder, die dem Betrachter die Freiheit für eine eigene Ahnung nicht nur lassen, sondern schenken. Wir dürfen selbst kennen, erkennen – durchaus mit einer gewissen romantischen Melancholie.

 

Kempten im April 2014

 

Stephan A. Schmidt

Vorsitzender artig e.V.


 
 
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